Liebe Väter im Herrn, liebe Brüder und Schwestern!
In diesen schrecklichen Tagen, in denen sich Ströme von Blut mit Strömen von Lüge und Täuschung mischen, ist es für uns Christen nicht hinnehmbar, dem Geist des Krieges zu erliegen. Der Geist des Krieges ist fordernd. Er fordert Parteiungen. Er fordert Hass.
Wir Christen müssen verstehen: Der Zorn und Groll, mit dem der Krieg tobt, ist der Zorn und Groll der Hölle. Der Feind Gottes berauscht sich nicht so sehr an menschlichem Blut, als an menschlicher Verbitterung und Spaltung. Der Teufel will nichts sehnlicher, als den Menschen von seinem Nächsten, von der Kirche und von Christus zu trennen. Und das ist nichts Neues. Vor Beginn der Großen Fastenzeit, am Samstag der Fleischentsagung, hat uns der Herr gewarnt: „Ihr werdet aber von Kriegen und Kriegsgerüchten hören; habt acht, erschreckt nicht; denn dies alles muss geschehen; […] Denn ein Volk wird sich gegen das andere erheben und ein Königreich gegen das andere; […] Und dann werden viele Anstoß nehmen, einander verraten und einander hassen. […] Und weil die Gesetzlosigkeit überhand nimmt, wird die Liebe in vielen erkalten. Wer aber ausharrt bis ans Ende, der wird gerettet werden“ (Mt 24,6-13; Lk 21,8-36).
Vor uns liegt ein gerechtes, allumfassendes Gericht Gottes. Dort, wo die Erinnerung daran verloren gegangen ist, wird schnell und einfach geurteilt – und auch das ist ein Krieg, der Krieg des Teufels gegen Gott von alters her. Auf wessen Seite sollen wir uns stellen?
Dieses Wort richtet sich sowohl an diejenigen, die hier bereits kirchliche Verantwortung tragen, als auch an Neuankömmlinge. Die deutsche Diözese ist unsere Ortskirche. Sowohl Priester als auch Gläubige verschiedener Nationalitäten kommen zu ihr: Ukrainer, Russen, Weißrussen, Karpaten-Russen, Juden, eingewanderte Russlanddeutsche, hier ansässige Deutsche, Griechen, Moldawier, Serben, Georgier, Polen, Tschechen, Ungarn… Jeder von uns liebt seine Heimat. Aber der barmherzige Herr hat uns vereint und uns dazu berufen, das kirchliche Leben dieser Diözese aufzubauen, zum Heil der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen orthodoxer Christen in diesem Land. Hier sollen wir das Gottesvolk sein, das dem einen Gott dient.
Wenn wir es zulassen, dass dieses Dienen nach nationaler Zugehörigkeit zerteilt wird, begehen wir eine sehr schwere Sünde. Wir zerreißen den lebendigen, einen Leib der Kirche. Genau dieses Zerreißen, diese Spaltung will und fordert der Fürst dieser Welt immer nachdrücklicher von uns. Wir erinnern uns, dass auch von Christus gefordert wurde, als politischer Führer aufzutreten und die Besatzer zu unterwerfen. Er sollte sich von den römischen Eroberern trennen und nicht zum Gott aller Menschen werden, sondern des einen leidenden Volkes. Und als er diesen – wie es damals vielen schien – wohlverdienten, berechtigten politischen Erwartungen und Forderungen nicht entsprach – wir erinnern uns daran, was diejenigen, die diese Forderungen stellten, mit ihm getan haben.
Politik setzt immer eine Einteilung in Freund und Feind voraus. Doch das unblutige Opfer Christi wird „für alle und wegen allem“ dargebracht. Wenn wir in unserem Herzen nicht mit diesen Worten „für alle und wegen allem“ einverstanden sind, können wir dann die Kommunion empfangen? Sind wir dann wirklich Christen?
Erheben wir wenigstens für einen Moment unsere geistigen Augen. Wenden wir uns der unsichtbaren Welt der Engel zu. Die Verbindung mit dieser Welt feiert die Kirche besonders in der Liturgie: der kleine Einzug, der Cherubim-Gesang, „Heilig, heilig, heilig…“. Denn die Welt der Engel ist nicht durch die Mauern des Gotteshauses begrenzt. Selbst im Dröhnen des Kampfes, unter Geschossen und Bomben, wo es scheint, als würde die Hölle unbegrenzt herrschen, wird jeder Soldat von seinem Engel begleitet, der sich um ihn sorgt, ihn beschützt, mit ihm leidet und trauert. Dämonen streben als Diener des Teufels mit ihrem Hass danach, menschliche Körper, vor allem aber die Seelen zu zerstören. Engel, die Herolde Christi, bemühen sich mit ihrer Liebe, jeden Soldaten zu retten, ganz gleich auf welcher Seite er kämpft. Und nun durchdringt Schmerz die in der Kirche stehenden Mütter, Ehefrauen und Schwestern der Soldaten, für deren Rettung und Seelenfrieden wir beten, der Soldaten beider Seiten.
Wofür werden wir unsere Herzen öffnen – für die Liebe oder den Hass? Mit wem stehen wir in diesem wahren Kampf? Wenn wir Christen sind, werden wir den Geist des Krieges, der Christus fremd ist, ablehnen. Möge Frieden in unseren Herzen herrschen, der einzig wahre Frieden, den der Retter bereits mit sich gebracht hat. Lasst uns dem apostolischen Ruf folgen: „Gebt dem Teufel keinen Raum…! Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern bemühe sich vielmehr, mit den Händen etwas Gutes zu erarbeiten, damit er dem Bedürftigen etwas zu geben habe. Kein schlechtes Wort soll aus eurem Mund kommen, sondern was gut ist zur Erbauung, wo es nötig ist, damit es den Hörern Gnade bringe. Und betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, mit dem ihr besiegelt worden seid […] Fern von euch sei alle Bitterkeit, Wut, Zorn, Geschrei und Lästerung samt aller Bosheit. Seid aber gegeneinander freundlich und barmherzig und vergebt einander, gleichwie auch Gott euch vergeben hat in Christus“ (Eph 4,28-32).
Lasst uns fest an das Wort Christi glauben: „Dies habe ich zu euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Bedrängnis; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden!“ (Jo 16,33). Amen.
Samstag des Totengedenkens, am 6./19. März 2022
+ Mark, Metropolit von Berlin und Deutschland